J. Jäger: Verfolgung durch Verwaltung

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Titel
Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880-1933


Autor(en)
Jäger, Jens
Erschienen
Konstanz 2006: UVK Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv

Spätestens mit dem globalen Kampf gegen Terrorismus und der Einführung des europäischen Haftbefehls wurden internationale Polizeikontakte und der damit einhergehende Datentransfer zum politischen Dauerbrenner, der Aussenpolitiker, Sicherheitsexperten, Datenschützer und eine verunsicherte Öffentlichkeit gleichermassen beschäftigt. Jens Jäger geht in seiner Habilitationsschrift den Wurzeln der im Zeitalter von Interpol selbstverständlichen, jedoch zuweilen unüberschaubar werdenden grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung nach, wobei er polizei-, rechts- und politikgeschichtliche Perspektiven mit der Frage nach der sozialen Konstruktion des (internationalen) Verbrechers verbindet. Aufgrund von Unterlagen aus deutschen, österreichischen, französischen, englischen und niederländischen Archiven sowie zeitgenössischen Publikationen will Jäger aufzeigen, wie sich Polizeibehörden, Staaten und die Öffentlichkeit in verschiedenen Ländern über das Wesen, den Umfang und die Bekämpfung «internationaler Kriminalität» verständigten und so den Weg zu neuen Formen der multilateralen Kooperation frei machten. Diese Kooperationsbestrebungen kulminierten schliesslich 1923 in der Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK), der Vorgängerorganisation von Interpol.

Im ersten Teil seiner Untersuchung verfolgt Jäger im Wesentlichen zwei Argumentationsstränge. Zum einen plädiert er für eine «kurze Vorgeschichte» der polizeilichen – oder besser: kriminalpolizeilichen – Kooperationsbestrebungen. Als deren Träger macht er in erster Linie hohe Beamte der grossstädtischen Kriminalpolizeien aus, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als eigenständige Verwaltungsabteilungen konstituierten. Führende Kriminalisten wie Howard Vincent oder Edmond Locard gingen mit ihren Vorschlägen für einen zentralisierten Datenaustausch oder eine «Police internationale» über herkömmliche Kooperationsformen wie Auslieferungsverträge, Konferenzen gegen Anarchisten oder multilaterale Konventionen gegen «Moraldelikte» hinaus. Was ihnen vorschwebte, war ein direkter und von der Kontrolle durch Diplomatie und Justiz befreiter Informationsaustausch auf kriminalpolizeilicher Ebene. Legitimation und Auftrieb erhielten solche Kompetenzansprüche – und hier setzt der zweite Argumentationsstrang Jägers an – durch das Konstrukt des «internationalen Kriminellen», der sozusagen das Gegenstück zum professionellen Kriminalpolizisten bildete. Als Mitglied einer «Elite der Verbrecherwelt» waren solche «Internationale» in erster Linie auf raffinierte und lukrative Eigentumsdelikte spezialisiert und zeichneten sich durch eine hohe, grenzüberschreitende Mobilität aus. Das Bild des international tätigen Kriminellen beschäftigte allerdings die täterzentrierte Kriminologie nur am Rande, sondern diente vor allem den Polizeichefs dazu, die Notwendigkeit einer professionellen, betont unpolitischen und gut ausgerüsteten «Police scientifique» zu unterstreichen. Eine wichtige Rolle bei der Intensivierung der inter nationalen Polizeikontakte, die sich um 1900 feststellen lässt, spielten bezeichnenderweise die im Hinblick auf die distanzunabhängige Datenübermittlung und –verarbeitung laufend optimierten Identifikationsmethoden wie die Anthropo metrie und später die Daktyloskopie. So war es durchaus konsequent, dass die Einrichtung einer internationalen Erkennungsdienstzentrale zuoberst auf der Wunschliste des internationalen Polizeikongresses in Monaco stand, der im April 1914 gleichsam eine Bilanz der polizeilichen Kooperationsbestrebungen vor dem Ersten Weltkrieg zog.

Der Glaube der Kriminalisten an die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit nahm durch den Ersten Weltkrieg keinen Abbruch, sondern wurde eher noch bestärkt. Zu Beginn der 1920er Jahre kam der zwischenstaatliche Austausch von Fahndungsblättern langsam wieder in Gang. Gleichzeitig lancierten niederländische und dänische Polizeibeamte neue Vorstösse für eine Intensivierung und Standardisierung des Datenaustausches und die ehemaligen Zentralstellen wurden in das Völkerbundssystem integriert. Im zweiten Teil seiner Studie zeigt Jäger, wie die polizeilichen Kooperationsbestrebungen mit der erfolgreichen Initiative des Wiener Polizeipräsidenten und Politikers Johannes Schober zur Gründung der IKPK eine neue Phase erreichten. Die 1923 gegründete IKPK stellte zunächst lediglich einen informellen Zusammenschluss hoher Polizeibeamter dar, bevor sie dann im Laufe der 1920er Jahre von den meisten europäischen Staaten und vom Völkerbund als Experteninstitution und Ansprechpartnerin in Sachen internationaler Kriminalität anerkannt wurde. Als Kernstück unterhielt die IKPK in Wien ein «internationales Büro», das «Evidenzen» über «Internationale» sammelte. Vor allem diente sie aber als Kommunikationszentrale in eigener Sache: mit Publikationen und Tagungen wurde die Vorstellung des «internationalen Verbrechers» verfestigt und eine Intensivierung des internationalen Datentausches propagiert, wenngleich sich, wie Jäger kritisch feststellt, der praktische Nutzen der Wiener Zentrale in Grenzen gehalten haben dürfte. 1931 wurde der IKPK eine «Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerwesens» angegliedert, die eine grenzüberschreitende Verfolgung von «Zigeunern» und «Landfahrern » ermöglichen sollte. Gleichzeitig trug die IKPK zur Stereotypisierung und Popularisierung der Vorstellung des «jüdischen Taschendiebes» bei. Nach 1933 geriet die IKPK zunehmend ins Fahrwasser des NS-Regimes. Die Kommission kommentierte die NS-Kriminalpolitik wiederholt positiv und hielt auch nach 1940, als sich im Präsidium die SS-Grössen Heydrich, Nebe und Kaltenbrunner folgten und der Sitz nach Berlin verlegt wurde, an der Illusion einer unpolitischen Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden fest. 1946 setzte die IKPK ihre Tätigkeit mit Standort in Paris und neuer Bezeichnung als Interpol sowie – vorerst – ohne ihre deutschen und österreichischen Mitglieder weitgehend ungebrochen fort.
Jens Jägers Monographie über die Entstehung internationaler Polizeikooperation betritt thematisch weitgehend Neuland. Die transnationale und auf Archivbeständen verschiedener Länder beruhende Perspektive und die Verbindung von Diskurs- und Institutionsgeschichte erweisen sich als überaus gewinnbringend. Freilich weist die Untersuchung nebst einigen (sprachlichen) Redundanzen auch gewisse argumentative Unschärfen auf. So wird die zeitgenössische Differenzierung zwischen Gewohnheits-, Berufs- und internationalen Verbrechern nicht immer ganz klar. Auch stellt sich die Frage, ob sich die Abgrenzung von politischer Polizei und Kriminalpolizei, wie sie dem Selbstverständnis der damaligen Kriminalisten entsprach, angesichts der von Jäger selbst erwähnten personellen und institutionellen Verflechtungen wirklich auch analytisch nutzen lässt. Zweifellos noch einer vertieften Analyse bedarf die Entwicklung der IKPK nach 1933 im Kontext des Internationalismus des NS-Regimes, die Jäger nur in einem knappen Ausblick skizzieren kann. Weiterführende Perspektiven eröffnet Jäger schliesslich dort, wo er auf die Interdependenz zwischen technologischer Entwicklung – im Bereich der Verkehrs- und Kommunikationssysteme, aber auch der Entwicklung polizeilicher Identifikationstechniken – und der Intensivierung grenzüberschreitender Kooperation sowie auf die katalytische Wirkung internationaler Kooperationsbestrebungen auf nationale Zentralisierungstendenzen hinweist. Ebenfalls –und auf Mikroebene – weiterzuverfolgen wären die angedeuteten Überlegungen zur Praxis des polizeilichen Datenmanagements, das sich keineswegs so effizient und problemlos gestaltete, wie dies die – von der historischen Forschung nur zu gern rezipierten – kriminalistischen Lehrbücher propagierten.

Zitierweise:
Urs Germann: Rezension zu: Jens Jäger: Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880–1933. Konstanz, Universitätsverlag Konstanz, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 497-499.